Brief von Ernst Köhler-Haußen an seine Frau Else

Lichtenstein/Sachsen, den 9.4.1945

„Nackte Leichen überall, vom Phosphor entkleidet“

„Am Morgen des Schreckenstages brachte mir Lenchen zehn Pfund Kartoffeln. Mittags aß ich vergnügt im Zirkus eine mächtige Ladung Kartoffelbrei mit fetttriefender Brühe, war dann noch kurz in der Markthalle zu einem Spielchen, erledigte nachmittags noch einiges Geschäftliche, kam halb acht Uhr nach Haus, zog meinen gutsbesten Anzug aus, hing nach meiner Gewohnheit die Hose in den Spanner, Rock und Weste über den Bügel in den Schrank, zog mir für zu Hause mein schlechtes Gelump an, wärmte und aß die sauren Kartoffelstückchen, die mir Frau Kirchhoff sorglich bereitgestellt hatte, und setzte mich in den Lehnstuhl, um ein vom Intendaten Mühlberg geliehenes Buch von Hans Fischer über ‚Weltwenden‘ ein zweites Mal zu lesen. Auf einmal Vollalarm, und da hörte man auch schon Bomben. Mantel an, ein paar geflickte Wollhandschuhe, die Mittenwalder Sportmütze (echt englisches Fabrikat) auf den Kopf und in den Keller. ‚Na, in einer Stunde bin ich wieder oben, dann rauche ich noch mein letztes Stäbchen und lese weiter, ein oder zwei Uhr kann es meinetwegen werden.

Einhalb zwölf Uhr brach unser Kellereingang zusammen. Wir mußten durch die Mauer des Hauses Nr.10 hinaus und flüchteten in den großen Splittergraben mitten auf dem Zöllnerplatz. Da ließ mir’s keine Ruhe. Etwas mußte ich retten. Ich drang durch das Haus, das im vierten Stock schon brannte, wie der halbe Zöllnerplatz und die ganze, meiner Wohnung gegenüber gelegene Seite der Dürerstraße, über lauter ins Treppenhaus geschleuderte Vorsaaltüren hinauf. Meine Vorsaaltüre fand ich zu, ich mußte sie erst aufschließen. Was sah ich da? Der blaue Lehnstuhl, der im Wohnzimmer in der linken Fensterecke gestanden hatte, lag im Kleiderschrank im Korridor. Ich kam – taghell vom Feuer – bis ins Zimmer, packte, was ich an Papieren erwischte, in die Aktentasche: das ganze Manuskript zu ‚Reigen der Liebe‘ und Abschrift fast aller meiner Gedichte, leider außer der ‚Treppe‘. Dann muß ich in dem Rauch und Feuer und Funkenflug, der durch die Zimmer fegte, einen Augenblick die Besinnung verloren haben, dann, mit einem Strick, umschnürte ich die Steppdecke und das kleine Roßhaarkissen und schleppte es in den Splittergraben. Das ist alles, was ich gerettet habe.

Der Brand des Zöllnerplatzes war furchtbar, namentlich durch den wütenden Sturm, den ja jeder größere Brand hervorruft! Niemand konnte heraus, so eine Glut war auf dem engen Platze. Als ich mich als Erster hinauswagte, war der ganze Platz eine einzige lodernde Wanne. Ich kämpfte mich, immer ganz kurz durch den an die Nase gedrückten Schnurrbart (ein vorzüglicher Luftfilter) atmend, sehr mühsam über Trümmer, Balken und Steine, manchmal von quer über die Straße blasenden Flammen weitergejagt, matt von der Nacht und meinem unhandlichen Bettpack und der manuskriptschweren Aktentasche, bis zum Stephanienplatz.

Nach Begegnung mit mehreren nackten Leichen traf ich dort einen Menschen – und siehe, es war ein Bekannter, sogar ein guter: der Hausbesitzer Günther aus der Mathildenstraße, der drei Jahre lang in der ‚Halle‘ mit mir zu Mittag gegessen, mir oft von ihm gebackenen Kuchen oder ganze Torten mitgebracht und während meiner schweren Krankheit mich reichlich mit Weißbrot, Zwieback und allerlei Nährmitteln versorgt hatte. Sein Vater war Bäckermeister, er selbst Bankbeamter gewesen, dann aber berufslos, denn er wackelte infolge eines Kampfschocks mit dem Kopfe. Der stand auf dem Stephanienplatz in Filzschuhen, ohne Mantel, ohne Kopfbedeckung, mit einem zigarrentütengroßen Papierpäckchen in den Händen und brachte nichts anderes heraus als: ‚Wo soll ich denn hin, wo soll ich denn hin?‘ Ich konnte ihm nichts sagen, denn ich mußte ja weiter, Richtung Rabener und Werderstraße.

Durch die Hänelstraße sah ich, daß viele ihre Wohnungseinrichtung, Betten und ähnliches in die Vorgärten gebracht hatten. Alles verbrannte, vom Funkenflug angezündet. Nackte Leichen lagen, vom Phosphor entkleidet, überall herum. Ein weinender Mann kniete, ein älterer Mann, neben einer jungen weiblichen Leiche und streichelte sie weinend. Dort begegnete mir der große Blasewitzer Schmetterlingsmann Banghaas, seelenvergnügt, er kam aus dem Ratskeller. Nahe dem Großen Garten traf ich den Opernsänger Hanns Lange, ziemlich verstört, sonst keinen lebenden Menschen. Der Große Garten sah furchtbar aus. Alle fünf Meter lag eine Brandbombe.

Durch den Eisenbahndurchgang zur Franklinstraße mußte ich unten auf der Straße durch die heruntergestürzten Schienen klettern. In die Rabener Straße konnte ich wegen Qualm und Feuer nicht hinein, sah aber das zusammengestürzte und ausgebrannte Haus Nr.25. Mühsam kam ich durch Qualm und Feuer – Mittwoch, etwa zwei Uhr – durch die Schnorrstraße bis zur Werderstraße. Auch dort konnte ich nicht hinein und sah auch dort nur die leere Nr.25. Bis zur Nr.4 zu kommen, war ganz unmöglich. Ich kam bis zur Reichenbachstraße, dort traf ich den vierten lebenden Menschen, einen Amtsträger, den ich nach einer Auffangstelle fragte. ‚Es gibt keine. Machen Sie nur, daß Sie nach Strehlen ins Freie kommen, Herr Onkel!

Am Neuen Carola-Haus, das noch zur Hälfte stand, konnte mich die letzte Tasse Kaffee, die man dort hatte, kaum erquicken. Alarm! Flieger! Wir flüchteten in einen in der Schanze gegrabenen Stollen, in den die vor Abspannung wankenden Schwestern auf Bahren Verwundete herübertrugen. Dann die Teplitzer Straße hinaus, Jugendheim, die großen Luftwaffenbauten auf dem Gelände der ‚Villa Strehlen‘ (früher Königin Carola) und das riesige Seminar brannten noch immer hell und hoch. Jenseits des Wasaplatzes standen noch zuweilen Häuser, schließlich ganz unversehrte. Da ich kaum mehr weiterkonnte, gab ich mein Bettenbündel und meine schwere Aktentasche in irgendeine Erdgeschoßwohnung hinein und wankte weiter bis zu einer großen Schule. Dort gab’s nichts als Schulbänke und ein paar Stühle, von denen ich nach langem Herumstolpern einen erwischte. So konnte ich nun wenigstens sitzen. Zwei Scheiben trocken Brot erwischte ich auch.

Gegen acht Uhr kam wieder Alarm. Die Schule hatte keinen Luftschutzkeller. Schrägüber stand ein sehr großes stattliches Haus, an dem nur einige Fensterscheiben entzwei waren. Dort kam ich in einen großen, mit Balken trefflich ausgestützten hohen Keller, in dem Teppiche lagen und bequeme Polsterstühle mit feinen Leuten standen. Ein junges Ehepaar saß sogar in einem Strandkorb und ’speiste‘. Eine Petroleum-Hängelampe brannte. Ich fand einen Holzstuhl.

Nach einer halben Stunde hatte ich herausgehört, daß unter den Hausbewohnern ein Oberst mit seiner Frau Gemahlin und zwei adlige Fräuleins waren. Ich stand auf, sagte Namen und Beruf und bat, daß nach Beendigung des Alarms jemand mich mit in die Wohnung nehmen und mir wenigstens Gelegenheit geben möchte, mich die Nacht über auszuruhen. Was meinst Du wohl, was darauf erfolgte? He? Bis zur Entwarnung sprach keiner mehr ein Wort!!! Eine wohl wie ich zufällig zugewanderte Dame verbrannte sich völlig ergebnislos den Mund, ich ging wortlos grüßend wieder in die Schule und verbrachte die Nacht auf einem Stuhl. Morgens um neun Uhr gab’s ein paar Scheiben trocken Brot und eine Tasse Kaffee (…).

An der Neuen Technischen Hochschule, die zum Teil noch hell brannte, fand ich gegen vier Uhr nachmittags die erste organisierte Leistung. Ein paar Amtsträger warteten auf alle Sorten Autos, in die dort ankommende Flüchtlinge eingepackt und irgendwohin gefahren wurden. Da ich nach Lichtenstein wollte, mußte ich auf irgendeine Gelegenheit wenigstens in dieser Richtung warten. Dort ging der Inhaber von Blumen-Bartsch vorbei, einen mit einer grünen Decke zugedeckten Handwagen ziehend. Darauf lag sein mit schwerer Lungenentzündung kranker Schwiegervater.

Endlich nahm mich (…) ein kleines Auto mit. Richtung und Ziel Freiberg. Aber die gute Käsehitsche muckte. Alle zwei- bis dreihundert Meter blieb sie stehen, und der Fahrer mußte erst wieder Benzin pumpen oder sonstwas reparieren. So waren wir bis neun Uhr abends bis Hartha gekommen, wo das gute Tier seinen Geist aufgab. Aber ein umsichtiger NSV-Leiter gab mir gleich einen provisorischen Flieger-Geschädigten-Schein, reichlich Wurstbemmen und Kaffee. Die Nacht verbrachte ich auf einer großen Strohschütte auf dem Tanzboden des Hotels Hartha – freilich, viel Schlaf gab’s nicht, da die ganze Nacht Verwundete aus Lazaretten hereingetragen wurden.“

Am andern Morgen ging’s weiter, zuerst mit einem Milchauto, ab Tharandt mit dem Zug. Nach zehn Stunden Fahrt langt der Erschöpfte bei den Verwandten auf Schloß Lichtenstein an. In seinem Zufluchtsort überlebte er die Flucht nur ein Jahr. Köhler-Haußens letzte Sätze über den Untergang Dresdens lauten:

„Als ich mich gerade wusch, kam Paula und weinte vor Freude, daß ich nicht in Dresden umgekommen war. Es waren in Lichtenstein entsetzliche Zahlen von Toten genannt worden — von denen ich heute glaube, daß sie ungefähr das Richtige treffen.“

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